Alte Leute

In meiner Kindheit war ich umgeben von alten Leuten. Jedenfalls hatte ich damals den Eindruck. Alte Männer in Unterhemden und alte Frauen in Haushaltskitteln. Na gut, vielleicht waren sie gar nicht so alt, schließlich war ich selbst ziemlich jung, außerdem sehen Menschen, die richtig hart arbeiten, immer irgendwie alt aus, man denke nur an die Fotos von all den Fußballern aus den Dreißigern, die mit Ende zwanzig aussahen wie andere mit Mitte fünfzig, weil sie neben dem Kicken eben noch eingefahren sind.

Vor allem auf der Poststraße bei Omma und Oppa väterlicherseits waren die von mir als alt gefühlten Leute unterwegs. Die Frauen hatten ihre kompakten Körper in knapp sitzende, geblümte Haushaltspellen gequetscht, bei denen man immer dachte: Irgendwo in Deutschland fehlt jetzt wieder ein Duschvorhang. Auch wenn die wenigsten eine Dusche zu Hause hatten. Einmal die Woche durften Frauen und Kinder baden, die Kerle kamen ja immer schön sauber vom Pütt, duschten jeden Tag in der Kaue.

Die Haushaltskittel hatten keine Ärmel, und drunter trug die gute Ruhrfrau nichts, damit man die Oberarme schön blumenkohlig-weiß aus dem Kittel herauswachsen sehen konnte, breit und unförmig, mit einer über die Jahre gedehnten Impfnarbe.

Wenn sie nicht im Haushaltskittel daherkamen, trugen diese Frauen Tantenpullover. Unifarbene Strickpullis mit V-Ausschnitt, die sich über einem unglaublichen Atomvorbau spannten. So was wird ja heute gar nicht mehr gebaut. Die Mieder, die das stützen mussten, waren Meisterleistungen der Ingenieursplanung, höchstens noch vergleichbar mit Bauwerken wie der Fehmarn-Sund-Brücke. Diese Pullis saßen so eng, das war praktisch gehäkeltes Neopren. Man fragte sich spontan: Wie kommt die Tante da überhaupt rein? Vermutlich wie der Christbaum ins Netz kommt: Im Altersheim stand auf dem Gang eine durchgeschnittene Tonne, da kam vorne der Pullover drauf, und hinten schoben zwei Zivis.

Die alten Männer hörte man oft schon, bevor man sie sah. Ihnen ging ein abgehacktes Donnern voraus, und da wusste man gleich, da kommt wieder einer um die Ecke, der hat dreißig Jahre lang kaum das Sonnenlicht gesehen und hustet jetzt seine schleimigen Lungenreste auf den Bürgersteig hinaus. Und manchmal sah das, was da rauskam, aus, als würde es noch leben. Hackendes Lungendonnern - der Soundtrack einer Kindheit im Ruhrgebiet.

Sehr viele alte Männer fand man im Stadtbad. Ich weiß gar nicht, wieso ich da so oft hinging, vor allem im Sommer, mit dem Ferienpass. Vielleicht haben mich meine Eltern gezwungen, weil sie dachten, Chlor macht schlau. Jedenfalls war es schon ein beeindruckender Anblick, wenn man sah, wie die Kriegsgeneration ihre Prothesen auf der Wärmebank lagerte. Einmal rief so ein rüstiger Mittsiebziger mich, den Achtjährigen, zu sich, nahm seinen Unterschenkel ab und sagte: »Kumma, der Rest is inne Ukraine geblieben!«

In einschlägigen Kontaktanzeigen nennt man so etwas wohl »zeigefreudig«.

Alte Leute machten sich ständig Sorgen und warnten uns Kinder vor der bösen Welt dort draußen, eine Welt, die bevölkert war von Säufern, Huren, Dieben, Mördern und Kinderschändern. Die praktisch alle nebenan wohnten.

»Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht mit dem Nieswitz reden.«

»Onkel Nieswitz?«

»Das ist kein Onkel. Das ist ein böser Onkel.« »Also doch ein Onkel?« »Aber ein böser.«

»Der hat immer Klümpchen für mich.«

»Die hast du doch wohl nicht angenommen!«

»Waren lecker, die Klümpchen.«

»Mach das nie wieder!«

»Wieso denn nicht?«

»Das sind alles böse Onkel, die nehmen dich mit hinters Gebüsch!«

»Und dann?«

»Wirst du schon sehen.«

»Ich denke, ich soll nicht mitgehen?«

»Herrgott, du kannst einem aber auch auf die Nerven gehen!«

Außerdem beantworteten alte Leute nicht gerne Fragen, konnten aber auch nicht zugeben, dass sie etwas nicht wuss-ten. Das lief dann ungefähr so:

»Onkel Josef?«

»Ja?«

»Wieso sind die Bananen krumm?« »Wieso willst du das wissen?« »Nur so.«

»So was fragt man nicht.« »Warum nicht?« »Das ist eben so.«

»Was ist wie?«

»Bananen sind eben krumm.«

»Aber dafür muss es doch einen Grund geben! Du hast mal gesagt, es gibt für alles einen Grund.«

»Sei froh, dass es bei uns überhaupt Bananen gibt!« »Wieso?«

»Andere Leute haben keine Bananen, da können die Kinder auch nicht fragen, warum die krumm sind.« »Wer hat keine Bananen?« »Viele Leute.« »Wer denn?«

»Die Leute in Afrika. Und in der Ostzone.« »Aber ich denke, die kommen aus Afrika, die Bananen.« »Nein, die kommen aus Bananien, und jetzt lass mich in Ruhe!«

»Onkel Josef, was ist Ostzone?«

»Ostzone ist ein Teil von Deutschland, aber nicht so richtig.« »Wieso?«

»Da sitzt der Russe.« »Nur einer?«

»Ja, und der hat auch keine Bananen und jetzt ist endgültig Schluss!«

Und wenn man dann immer noch nicht aufhörte zu fragen, fingen sie einfach an zu husten und man hatte keine Lust mehr.

 

Radio Heimat
titlepage.xhtml
jacket.xhtml
Radio Heimat_split_000.html
Radio Heimat_split_001.html
Radio Heimat_split_002.html
Radio Heimat_split_003.html
Radio Heimat_split_004.html
Radio Heimat_split_005.html
Radio Heimat_split_006.html
Radio Heimat_split_007.html
Radio Heimat_split_008.html
Radio Heimat_split_009.html
Radio Heimat_split_010.html
Radio Heimat_split_011.html
Radio Heimat_split_012.html
Radio Heimat_split_013.html
Radio Heimat_split_014.html
Radio Heimat_split_015.html
Radio Heimat_split_016.html
Radio Heimat_split_017.html
Radio Heimat_split_018.html
Radio Heimat_split_019.html
Radio Heimat_split_020.html
Radio Heimat_split_021.html
Radio Heimat_split_022.html
Radio Heimat_split_023.html
Radio Heimat_split_024.html
Radio Heimat_split_025.html
Radio Heimat_split_026.html
Radio Heimat_split_027.html
Radio Heimat_split_028.html
Radio Heimat_split_029.html
Radio Heimat_split_030.html
Radio Heimat_split_031.html
Radio Heimat_split_032.html
Radio Heimat_split_033.html
Radio Heimat_split_034.html
Radio Heimat_split_035.html
Radio Heimat_split_036.html
Radio Heimat_split_037.html
Radio Heimat_split_038.html
Radio Heimat_split_039.html
Radio Heimat_split_040.html
Radio Heimat_split_041.html
Radio Heimat_split_042.html
Radio Heimat_split_043.html
Radio Heimat_split_044.html
Radio Heimat_split_045.html
Radio Heimat_split_046.html
Radio Heimat_split_047.html
Radio Heimat_split_048.html
Radio Heimat_split_049.html
Radio Heimat_split_050.html
Radio Heimat_split_051.html
Radio Heimat_split_052.html
Radio Heimat_split_053.html